Eine dreiviertel Stunde, eine Flasche „Fritz Kola“ und 0,6 Gramm eher mäßiges Pep später, befindet sich Paul wieder im Körper Banyardis. Was die letzte Zeit mit einer starken psychischen Anstrengung verbunden war, gelang ihm nun, ohne dass er es forcieren musste. Er musste es nicht einmal wollen. Der Übergang vollzog sich ähnlich des Einschlafens, denn wie zu Beginne eines Traumes konnte sich Paul nicht an den Moment des Wechsels in einen anderen Bewusstseinszustand erinnern. Es war wie durch eine offene Tür ins Paradies zu treten, nach dem er sich nach dem ganzen Wirrwarr mit Katha außerordentlich sehnte. Plötzlich war die „andere Welt“, wie Paul sie unterbewusst schon bezeichnete, jene geworden, in der er sich sicherer und behüteter fühlte, als in seinem tatsächlichen Leben. Die Fronten waren ebenso geklärt, wie die Ziele. Warum konnte es im normalen Leben nicht genauso sein? Warum konnte er nicht einfach Kathas Held sein? Und warum wusste er nicht einmal für sich, ob er das überhaupt wollte?
Kaum war er in Banyardis muskulösem, wildem Körper angekommen, fühlte er sich endlich bei sich selbst angekommen. Die Verwandlung „in“ Banyardi war wie ein Upgrade zum Superhelden. Banyardi kennt keine Zweifel. Keine Furcht. Banyardi ist ein Fels. Ein Mann wie ein Nietzsche Zitat, dessen „Formel meines Glücks“ lautete: „Ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie, ein Ziel.“
Banyardi würde sich die Frauen so nehmen wie er wollte. Er würde sich auch niemals lächerlich machen. Niemals wanken. Niemals zweifeln. Banyardi stand über der Meinung der anderen. Seine Welt war einfach und deswegen voller Hoffnung.
Die Welt der Ma-Fag liegt schon in der Dämmerung. Der Krieger ist auf dem Weg zu den gefangenen Frauen der Mi-Cock. Erschüttert über dieser Erkenntnis öffnet er dumpf seinen Mund und bleibt stehen, denn: Noch nie wusste Paul, was Banyardi vorhatte und woher er kam. Bisher war Paul immer einfach nur in die Welt der Ma-Fag eingetaucht, ohne auch nur im mindesten zu wissen, was sein Auftrag ist. Er war einfach nur immer dagewesen. Mitten im Geschehen. Jetzt ist sich Paul bewusst, indessen Banyardi seinen Weg fortsetzt, dass er auf den Weg zu den gefangenen Frauen der Mi-Cock ist, die von den männlichen Gefangenen separiert worden waren. Und. Banyardi hatte bereits eine weitere Begegnung mit Ylva geführt. Die blonde Frau vom Wasserfall, die den Jungen mit so stolzem Blick Paroli geboten hat. Die Tochter Murdocks.
Wie findet man Vertrauen zu einer Person, die man gefangen hält? Über die man verfügen und richten könnte, wie es einem beliebt? Die Ältesten hatten entschieden: Durch Menschlichkeit – und Schwäche. Menschlichkeit signalisierte der Mann, der vor ihren Augen ihren Beschützer, wenn das Biest nicht sogar ihr Freund war, getötet hatte, in dem er sich auf die gleiche Stufe stellte, wie die Gefangene. Er ermahnte die Wärter der Gefangenen sie gut zu behandeln und sprach davon, dass auch die Ma-Fag eines Tages Geflüchtete sein könnten, sollten die Mi-Cock recht behalten. Würden die Wachen es denn nicht auch wollen, dass ihren Frauen kein Leid zugefügt werden würde? Würden sie selbst denn nicht Obdach bei Fremden finden wollen, würden sie vertrieben werden? Und was wäre wenn es tatsächlich diesen einen großen Feind gäbe, gegen den sie alle zusammenstehen mussten, ganz egal aus welchem Teil der Welt die künftigen Alliierten kommen würden? Das müssten sich die Wachen doch einmal klarmachen!
Tatsächlich war das alles nur Show für die Gefangenen, denn noch niemals hatte ein Bübchen wie Banyardi den tapferen Kriegern der Mi-Cock überhaupt irgendetwas zu sagen gehabt. Bei den Mi-Cock gab es eine klare Rangordnung, die an das Alter geknüpft war, nicht an Erfolge. Was für Erfolge außer der Jagd könnte so ein Wald-Volk schon vorweisen könne? So nickten die Krieger nur müde und sahen erschöpft vor lauter Langeweile in den Urwald. Sollte er doch reden, der Kleine.
Noch viel schlimmer als das Schauspiel der Wachen war der Beginn dieser ganzen Szene, die sich Masiyo ausgedacht hatte. Sie sollte als Türöffner zum Vertrauen der Gefangen benutzt werden. In diesem Szenario stürzte sich Masiyo als Vergewaltiger auf die eingesperrten Weiber, vor welchem Banyardi die Frauen retten sollte. Dadurch würde Banyardi als tapferer Held und Retter der Frauen ihre Gunst erwerben. Jedoch geriet die Aktion genau zu der Farce die eintreten musste, wenn sich zwei Ureinwohner vornehmen, Theater zu spielen, ohne jemals auch nur ein Schauspiel gesehen zu haben, nein, ohne überhaupt zu wissen, was Theater ist. In der Welt der Ma-Fag gibt es zwar gewissen Riten und Feste, die sich jedoch ausschließlich an den Jahres- und Mondzeiten, sowie an den Brunftzeiten der Tiere orientieren. Das Wort „Schauspieler“ gibt es un Dorf nicht. Wozu auch? Die Ma-Fag sind ehrliche Leute, denen es gar nicht in den Sinn kommt dem Gegenüber etwas vorzuspielen. Schließlich kennt im Ma-Fag-Dorf jeder jeden und es ist geradezu lächerlich seinem Nachbarn, der ohnehin alles über einen weiß, eine große Lügengeschichte vorzuspielen. Gerade deshalb empfand Masiyo seine Geschichte auch als so genial: In seiner Welt hatte er etwas erfunden, was es bei den Ma-Fag nicht gab. Das „So tun, als ob“. Schließlich kannten die Mi-Cock die Ma-Fag nicht, wie sollten sie also zwischen Wahrheit und dem Schauspiel unterscheiden können? Eine geniale Idee für einen Dorflehrer, der niemals das Dorf verlassen hatte. Masiyo ist wahrlich ein großer Geist. Ein Visionär, der etwas erdacht hatte, was kein Ma-Fag vorher auch nur denken konnte. Der Plan MUSSTE einfach funktionieren.
Das traurige Ende der Geschichte war ein absolut überzogenes, grauenvolles Schauspiel von Masiyo und Banyardi, dessen Lächerlichkeit seines Gleichens suchte. Alles daran improvisiert. Nichts war einstudiert (auf den Gedanken vorher zu üben, wären die beiden Wilden nie im Leben gekommen). So ging schief was schiefgehen konnte. Das Timing stimmte nicht. Der Mut zu Aktion fehlte total. Dass sie sich nicht versprochen und damit gänzlich verraten hatten, war schon alles. Hätten sie wenigstens die Wachen in ihre Idee eingeweiht doch die lagen einfach nur gelangweilt in der Sonne und verzogen keine Miene, als Banyardi theatralisch und mit großen Worten (und wenig Kraftaufwand) den Erektionslosen Masiyo von Ylva riss. Masiyos Gesicht war bei der ganzen Geschichte rot wie eine Tomate ob der Peinlichkeit, Ylva überhaupt so nahe zu kommen. Noch nie hatte der alte Dorflehrer eine andere Frau berührt als seine eigene. Schon gar nicht so eins junges und pralles Weib wie Ylva. So gab der „Vergewaltiger“ nach dem Eingreifen des Heldens auch sofort auf und trollte sich. Nicht in Hast, Furcht oder mit sonstigen großen Gesten: Er ging einfach davon, als hätte er gerade ein Bier von einer Bar geholt. Nach dem Motto: „Meine Aufgabe ist erledigt. Ich geh dann mal nachhause.“ Die ganze Szene war furchtbar unglaubwürdig und Banyardi hatte kurz das Gefühl, das Ylva und die Frauen es sich verkneifen müssten laut los zu lachen, als Masiyo – wenn auch nicht gleich pfeifend – vollkommen gechillt seines Weges ging.
Paul stöhnte im Kopf Banyardis peinlich berührt auf, als ihm diese Farce gewahr wurde. Absolut lächerlich.